ChatGPT und Werte: Was würde Data sagen?
Vor gut 10 Jahren habe ich eine Rezension zum Buch von Karen Gloy verfasst, die im Wiener Jahrbuch für Philosophie auch veröffentlicht wurde: Es ging um das Thema „Wahrnehmungswelten“, also etwas typisch Menschliches, was Gloy im Kontrast zum Maschinellen abgrenzte. Was war da naheliegender, als mit „Data“ aus Star Trek einzusteigen. Wir erinnern uns, Data – der Androide, der nur eines im Sinn hatte: Er (die Maschine) wollte menschlich werden! Ich kann also sagen, dass mich dieses Mensch-Maschine-Verhältnis immer schon interessierte und Data bot mir anschauliche Gedankenexperimente zur Frage: Was ist das denn – menschlich? Und was daran ist erstrebens- und damit schützenswert?
Mit ChatGPT sind wir schneller als gedacht an den „Anfang der Geschichte“ angekommen. Zwar gibt es 2023 noch lang keine Androiden (erste Gehversuche hier oder GPT & Robots), aber die Tür zu einer „disruptiven“ Entwicklung ist geöffnet: Goldgräberstimmung, globaler Wettbewerb, Kapital und endlos viele (hilfreiche wie bedrohliche) Anwendungen. Was braucht man mehr?!
In der aktuellen Diskussion zu ChatGPT im Kontext Bildung (Schule, Hochschule, Corporate Learning) überwiegen die optimistischen Stimmen. Es soll experimentiert werden! Dem folge ich, denn wie sollte man anders die Chancen und Grenzen von der KI im Bildungskontext ausloten? Was wir aber neben Experimentierfreude AUCH brauchen, ist eine Diskussion über Werte. Ehe das als „Spaßbremse“ oder gar als „Blauäugigkeit“ missverstanden wird: Die Diskussion über Werte hat nicht die Primärfunktion, uns vor der „KI zu schützen“ (Bollwerk Werte), sondern darum, worum es Data (s.o.) immer ging, um die Frage, wie wir uns im Zeitalter von KI und (totaler) Simulation als Menschen (!) definieren wollen. „Kreative Originalität“ (nach der jetzt alle rufen) steht zumindest auf dem Prüfstand, wenn man sich die Ergebnisse aktueller KI-Anwendungen in Text, Bild, Video und 3D anschaut.
Gabi hat sich in einem Artikel (Impact Free) dem Thema angenommen. Es ist ein erstes, lautes Nachdenken (zaghaft und tastend also) mit Hochschulbezug. Aber mit der Frage „Wozu sind wir hier?“ macht sie den Anspruch, die Fragerichtung, deutlich. Es geht um Selbstvergewisserung, Grundfragen und vorläufige Antworten. Antworten sehen anders aus, wenn man sie (mit)verantwortet.
ChatGPT und Critical Thinking als Zaubertrank
Die Bildungslandschaft ist durch ChatGPT in Aufruhr. Laut nachgedacht wird über den Einsatz von ChatGPT bei der Aufgabenerstellung und Aufgabenlösung, im Lernprozess und bei Prüfungen. Während die einen die neuen Möglichkeiten euphorisch ausloten, sind andere kritisch bis ablehnend. Auch Verbote werden ausgesprochen. Was sagt uns das?
ChatGPT „macht“ etwas mit unserem Bildungssystem, mit den Menschen, die darin wirken, mit deren Selbstverständnis und deren Routinen. Und das ist gut so, denn Reformen sind gefühlt noch nie „aus dem Inneren“ der Bildung gekommen, sondern durch Politik und Wirtschaft, also von „außen“ angestoßen, vielleicht auch „über Bande“ diktiert worden (vgl. Pisa, Bologna etc.).
Nun ist eine Reform aber kein Selbstzweck, sondern eine Antwort auf neue Anforderungen, die die Gesellschaft an das Bildungssystem stellt. Weil die Zukunft (die immer mit der Gegenwart beginnt) andere Anforderungen an MitarbeiterInnen hat als noch vor 50 Jahren, verlangt man von den Schulen und Hochschulen Anpassungen: AbsolventenInnen sollen fachkompetent sein, logo, vor allem aber kommunikativ, empathisch, kreativ, sie sollen sich in (MS)Teams wohl fühlen, um Probleme der Gesellschaft zu lösen. All diese an die Zukunft angepassten Eigenschaften nennt man „future skills“ (vgl. Ulf Ehlers) und wer will und vor allem kann dazu schon nein sagen?!
Was man jetzt im Zuge von ChatGPT immer stärker hört (z.B. hier), ist die Forderung nach „critical thinking“, ein wichtiger, wenn nicht zentraler Teil der future skills. Die Argumentation geht in etwa so: Wenn ChatGPT alle Prozesse der Wissens- und Produkterstellung „unterstützen“ kann, dann wird genau das passieren (~ Murphys Gesetz). Wenn es passiert, dann müssen die Menschen gut (~ kritisch) darin sein, (a) zu begründen, warum sie eine KI verwenden, (b) auszuwählen, welche KI sie nutzen, (c) wie sie die KI richtig verwenden und (d) mit welchen technisch-psychologischen Strategien sie sich gegen Fakes aller Art schützen. Die Tatsache, dass nicht mehr nachprüfbar ist, ob der Zuwachs an Wissen dem Autor oder dem Chatbot zuzurechnen ist, ist ein Problem, was uns aktuell nur deshalb so große Bauchschmerzen macht, weil es ins Herz unseres selbst verschuldeten Selektionsauftrags hineinragt.
Was ist aber nun dieses „critical thinking“, dieser Zaubertrank, welcher uns im Zeitalter der KI stark machen soll? Zum einen hat diese Denkform und Haltung etwas mit Distanznahme zu tun: sich von Informationen, Personen, Organisationen nicht einwickeln lassen, Abstand halten können zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“, um z.B. Täuschung zu erkennen. Das ist kognitiv, emotional und willensmäßig anspruchsvoll – im Zeitalter der Simulation eine große, vielleicht auch unmögliche Herausforderung. Zum anderen hat diese Denkform und Haltung etwas mit Zupacken zu tun: sich mit Elan und Verve einer Sache verschreiben, im Team unternehmerisch sein, was nicht zwingend was mit Geldverdienen zu tun hat, sich anstrengen und schmutzig machen, auch auf die Gefahr hin, dass man Schaden nimmt oder gar scheitert!
„Distanznahme“ und „Zupacken“, ein Widerspruch? Ich glaube nicht, eher etwas, was sich gegenseitig bedingt und konstituiert, in jedem Fall aber ein voraussetzungsreiches Ziel bzw. voraussetzungsreiche Ziele. Um solche Ziele annährend zu erreichen, braucht man geeignete Lern- und Lebensorte, z.B. Hochschulen. Hochschulen in Zeiten von KI werden anders sein müssen als die heutigen. Mit ein wenig „KI-Anwendung“ (wie kreativ auch immer) ist es eben gerade NICHT getan oder noch stärker: Damit dürfte die genuine Idee der Hochschule – als besondere Orte, die sich eine Gesellschaft leistet – verfehlt sein. Zieht man die beiden Zauberwörter Distanznahme und Zupacken nochmal heran, dann gilt es doch zunächst, nach der Schule die Distanzahme zu üben, d.h. sich auf die Antwortalternativen zu konzentrieren, welche die Hochschule und nur die Hochschule hervorbringen kann. In Kürze: Nur durch Distanznahme ist ein akademisches „Zupacken“ möglich und auch das muss man üben!
ChatGPT wird uns dazu zwingen, noch mal neu über Bildung nachzudenken, radikaler als früher. Hochschulbildung, vor allen Lehrerinnenausbildung, Managementausbildung und Ingenieursausbildung, stehen dabei in besonderer Verantwortung. Sie brauchen eine starke Idee, welche die Reform von innen vorantreibt, proaktiv, ohne die Stimmen der Außenwelt zu ignorieren.
Weblogs & Chatbots: Wenn Quadrate auf Kugeln treffen
Als ich 2005 mit meinem eigenen Weblog startete, hatte ich zusammen mit Gabi Reinmann und Sebastian Fiedler eine Unterhaltung in irgendeiner Kneipe im Nirgendwo. Es ging um die einfache Frage, was ein Weblog ist oder genauer, was ein Weblog wesentlich ausmacht. Sebastian hatte die Jahre zuvor seinen Abschluss in „Instructional Design“ an einer amerikanischen Universität gemacht und er war für unsereins ein interessanter (und auch sehr bereichernder) Nerd, vor allem, aber nicht nur, was das Thema Weblogs anging. Während Gabi und ich wie selbstverständlich auf den „Beitrag“, den „Post“, pochten (darin stecke doch die Kreativität, oder?), pochte Sebastian ebenso energisch auf die RSS-Feeds. Es war für uns Nicht-Nerds ein geflügeltes Wort für das, was wir zwar der Mechanik nach, aber nicht wirklich tief verstanden: „RSS-Feed“.
In diesen Nuller-Jahren entdeckte ich auch erstmals Beats Bibliothek. Hinter „Beat“ steht der Schweizer Informatiker und Bildungsdidaktiker Beat Döbeli Honegger und hinter seiner „Bibliothek“ steckt, ja was denn, eine Art „Luhmannscher Zettelkasten“, wie er selbst schreibt. Zu finden sind dort u.a. Texte, Begriffe, Personen, Fragen, Aussagen und Hitlisten rund um das Thema Medienbildung. Alle Elemente – über eine Million – sind verknüpft und bilden einen persönlichen Thesaurus, weswegen der Name Beats Bibliothek treffend ist. Was mich fasziniert: Ich sah damals beim ersten Lesen noch nicht annähernd, was sich da herausbilden sollte; ich hatte dafür keine Kategorie im Kopf, die mir helfen konnte, zu verstehen. Jetzt aus der Rückschau, nach 25 Jahren, mit alle den Erfahrungen und Vergleichen (Zettelkasten, Hypersystem, Internet) ist es klar(er), zumindest sehe ich den Sinn, die Umrisse und den Hintergrund einer „Memex“, einer persönlichen „Ontologie“.
Seit ein paar Wochen gibt es im Bereich der Bildung scheinbar nur noch ein Thema: Chatbots. Zwar ist KI/AI seit Jahren bekannt, aber (bisher) gefühlt sehr weit weg von der eigenen Arbeit in Schule, Hochschule und Berufsbildung. Mit „GPT“ von OpenAI ist ein Prototyp verfügbar, der KI für alle Nicht-Nerds erlebbar macht. Was diese Maschine kann, ist erstaunlich bis ernüchternd (vgl. klasse Vortrag von Jörg Löviscach), je nach Erwartung und Expertise. Exemplarisch und übervereinfacht kann man aktuell drei Standpunkte an Hochschulen ausmachen: Christian Spannagel fordert z.B. einen pragmatisch-experimentellen und auch „nüchternen“ Umgang mit Chatbots, um Erfahrungen zu sammeln, die ein tieferes Verständnis fördern. Beat Döbeli Honegger hat damit begonnen, systematisch Vor- und Nachteile zusammenzutragen, um das Thema für sich und andere grundsätzlicher einzuordnen. Gabis Beiträge zeigen offen die Ungewissheit und die tastende Suche nach einem erhellenden Begriffshorizont für das, was „da vor sich geht“ und gehen sollte! (vgl. Wettrüsten oder Wertewandel?)
Was verbindet nun diese drei Geschichten und warum erzähle ich sie? Sebastians RSS-Feed, Beats Ontologie und OpenAIs Chatbot überstiegen und übersteigen mein Denken: Ich hielt beim Thema Weblog etwas für wesentlich, was aber gar nicht wesentlich war, ich verstand weder die Dynamik noch den langfristigen Nutzen eines persönlichen Hypernetzwerks und natürlich (!) verstehe ich nicht die Implikationen für Bildung und Gesellschaft, was Chatbots und die zukünftigen Versionen des ersten Prototyps betreffen.
Bei all dem geht es mir in etwa so, wie dem (zweidimensionale) Quadrat aus dem Roman „Flatland“, das erstmals auf eine (dreidimensionale) Kugel trifft. Wikipedia schreibt: „Erst nach langer Mühe gelingt es der Kugel, das Quadrat von der Existenz der dritten Dimension zu überzeugen, und sie nimmt es zu einem Rundflug über seine zweidimensionale Heimat mit.“ Ich habe also Hoffnung, dass wir uns in die höhere Dimension des Denkens hineinfinden, um besser zu verstehen, was da vor sich geht und was unser Beitrag gestaltend (Design) wie begrenzend (Ethik) auf der Ebene der Organisation bis zur Menschheit als Ganzes sein kann. Aber ich meine nicht ganz falsch zu liegen, dass es sich bei GPT & Konsorten um ein qualitativ neues Phänomen handelt, weit mehr als ein Werkzeug, das wir vorerst nur in Analogien zu schon bekannten Dingen verstehen, aber für das wir eine neue Denkdimension erschaffen müssen: Was ist an GPT „kugelig“ und wo ist unser Denken bis her „quadratisch“?
Vier Dinge beunruhigen mich, ich gebe es zu: (a) Die Geschwindigkeit und Qualität, mit der sich KI-gestützte Software entwickelt (s.o.), (b) die Geschwindigkeit und Qualität mit der sich KI-gestützte Roboter entwickeln, (c) die fast unbegrenzten Geldmittel von Investoren und Verteidigungsindustrie in xx-Milliardenhöhe, mit denen a und b unterstützt werden und (d) wie wenig mutig wir immer noch in der Bildung über all dies sprechen und Konsequenzen ziehen. Mein Ruderlehrer sagte immer, „machen sie sich Gedanken“, … nachdem jemand von uns ins Wasser gefallen war. Recht hatte er.
Welcher Wolf wird gewinnen?
Von Davide Brocchi habe ich mir eine Geschichte ausgeborgt: Ein Großvater sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, großzügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der alte Mann lächelte. „Der Wolf, den du fütterst.“
So weit so gut. Die Geschichte könnte hier enden, so wie fast alle Kindergeschichten (im Übrigen auch alle Geschichten der Erwachsenen) enden: Hier DAS GUTE und dort DAS BÖSE. Man muss nur wissen, wo man steht. Doch ist es so einfach? Ich bezweifele das immer mehr, gerade in einer Welt, die sich durch Extrempositionen weiter aufspaltet.
Extrempositionen? Ja, man findet sie überall, egal ob es um Klima, Krieg, Inklusion oder Woke geht: Zu jedem Pro- gibt es einen Anti-Flügel, zu jedem radikalen X positioniert sich ein radikales Y, nicht selten mit bissig-abwertendem Sarkasmus vorgetragen. Thomas Bauer, ein deutscher Arabist und Islamwissenschaftler hatte das vor einiger Zeit in seinem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ beschrieben und damit den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt kritisiert.
Wenn wir weiter daran Interesse haben sollten (haben wir?), dass säkulare und religiöse Diskurse friedlich nebeneinander koexistieren, dann müssen wir etwas tun! Und das hat viel mit dem eingangs erwähnten Dualismus von Gut und Böse zu tun, also einem vereinfachenden, vereindeutigenden Denken. Ich sehe zwei Ansätze; von Lösungen sind wir weit entfernt 😊.
Zum einen sollten wir uns in allen Bildungsinstitutionen (von Kindergarten über Hochschule bis Berufsbildung) nochmals und immer wieder mit dem Werte- und Entwicklungsquadranten von Hartmann/Schulz von Thun auseinandersetzen, denn darin ist ein wichtiger Mechanismus festgehalten, der uns vor Extrempositionen schützt, was anhand eines Beispiels einsichtig wird: Man stelle sich hierzu zwei Personen vor, die sich gegenseitig Vorwürfe machen: Person A sagt zu Person B, sie sei geizig; Person B sagt zu Person A sie sei verschwenderisch … ein unüberbrückbares Dilemma! Im Wertequadrant wird nun vorgeschlagen, das Wertvolle in den Extrempositionen zu entdecken und dies zum Ausgangspunkt einer neuen Betrachtung zu machen: Aus „schlechtem“ Geiz wird „erstrebenswerte“ Sparsamkeit, aus „schlechter“ Verschwendung wird „erstrebenswerte“ Großzügigkeit. Sparsamkeit und Großzügigkeit sind nun nicht mehr diametrale, sondern komplementäre Gegensätze, die „miteinander reden können“. Genau das ist der Punkt: Die verwerflichen Extrempositionen (des Guten zuviel) können in Tugenden überführt werden und die verwerflichen Extrempositionen finden in den Diagonalen eine interessante Entwicklungsperspektive, also etwas, wie man in Zukunft sein könnte! (vgl. auch Impact Free-Artikel von Gabi)
Zum anderen entstehen Extrempositionen nicht nur durch „falsches Denken“ oder vereinfachende Zuschreibung durch Individuen. Gerade in Sozialen Medien werden Extrempositionen durch Algorithmen verstärkt und verbreitet. Gut zu beobachten ist das aktuell bei Andrew Tate, der mit seinen provokanten Aussagen (u.a. Rassismus, Frauenfeindlichkeit) und Affiliate-Marketing fast 12 Milliarden (!) Video-Views bei Tiktok erzeugt oder erzeugen lässt. Hier kommt man mit „Individualmedizin“ nicht weiter, weil der Patient sich hartnäckig der Therapie verweigert. Gefragt wäre hier sowas wie eine „Algorithmen-Aufsicht“, um solche systemischen Effekte zu reduzieren, was zumindest auf EU-Ebene zu diskutieren wäre.
Am Ende will ich nochmal einen Blick auf die Wolfsgeschichte werfen: Ja, natürlich stimmt es, dass derjenige Wolf in mir wächst, den ich füttere. Aber: Mein Beitrag, zumal am bilanzierenden Jahresende, will nochmal etwas grundsätzlicher danach fragen, ob wir mit der Geschichte von Gut und Böse weiterkommen. Ich meine Nein. Der Werte- und Entwicklungsquadrant zeigt eine alternative DENK-Weise auf, die aber nur sehr unwillig in unsere Köpfe kommt. Die Algorithmen-Aufsicht lenkt den Blick weg von einer Zensur der Inhalte hin zu den Mechanismen, die unter der Haube „für Stimmung sorgen“.
In diesem Sinne … Ahoi für 2023, es wird besser!
75. Jahre Sporthochschule … „Harvard des Sports“
Als ich im Oktober 1990 nach meiner Stippvisite bei der Bundeswehr die „heiligen Hallen“ der Deutschen Sporthochschule betrat, wusste ich noch nicht, was mich erwarten würde. Eines war aber sicher: Sportwissenschaft war mein (!) Studium, und Köln war der einzige Ort, wo man „sowas“ studieren konnte. Warnung! AbsolventenInnen dieser Institution meinen, im Harvard des Sports gewesen zu sein, und klingen deshalb immer etwas von oben herab. Nur der Vollständigkeit halber: Man kann auch in anderen Städten Sport studieren, irgendwie ?.
Heute (29.11.2022) wird die Sporthochschule – kurz SpoHo – 75. Jahre alt (siehe auch die Videos) und ich möchte meinen Beitrag nutzen, um meinen Glückwunsch auszusprechen, und mich erinnern, denn: Mit der SpoHo und dem Sport verbindet mich einfach eine ganze Menge.
Ich war im dritten Semester, als ich im Seminar von Professor Quanz saß, um etwas über die „Ordnung im Sport“ zu erfahren. Ein paar Monate später war ich Hilfskraft im Institut für Sportdidaktik und Herr Quanz sagte zu mir: „Haben sie Lust bei der Auflösung des Haushalts von Carl Diem mitzuhelfen?“ Ich wusste es damals nicht: Diem war Gründer der SpoHo, Quanz sein letzter Assistent (später Rektor/Präsident) und deshalb mit der Auflösung betraut. Ich wurde also im dritten Semester ins „Metaverse der SpoHo-Geschichte“ geschickt, alles zum Anfassen und mit Tonspur. Aus dem Haus konnte ich mir Diems Bürostuhl mitnehmen, auf den ich aus nachvollziehbaren Gründen stolz war. Der Stuhl ist heute in Süd-Korea bei Kottchul Jung, einem damaligen Auslandstudenten, mit dem ich länger im Austausch war und dem der Stuhl als Abschiedsgeschenk Tränen in die Augen trieb.
Etwa in der Mitte meines Studiums kam ich in Kontakt mit dem Nachlass von Professor Kirsch, den ich im Auftrag des Internationalen Leichtathletik Verbandes „ordnen“ sollte. Auch das wusste ich bis dahin nicht: Kirsch war Präsident des deutschen und internationalen Leichtathletikverbandes und Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft mit starkem Bezug zur Trainerakademie Köln. Nachdem ich mich im Laufe von 2 Jahren durch 30 Kartons mit Akten, Zeitungsartikeln und Manuskripten gewühlt hatte, wusste ich ein wenig mehr über „vielschichtige“ Sportverbandspolitik und deren nicht immer leichtem Verhältnis zur Sportwissenschaft.
Natürlich schloss ich mein Studium mit dem einzig „richtigen“ Schwerpunkt ab: Trainerprofil. Nein Quatsch, aber im Tennis war ich passabel und diesen Schwerpunkt konnte man in kurzer Zeit studieren. Das Trainerprofil war dennoch wegweisend: Ca. 10 Jahre später gründete ich die Ghostthinker GmbH, ein EdTech-Unternehmen, das bis heute ca. 20 Fachverbände und viele Landessportbünde bei der didaktisch motivierten Digitalisierung der Traineraus- und -fortbildung unterstützt.
Kurzum: In meinem Kopf (und im Herzen) gibt es diese Sport-Story: Von den Anfängen und Grundmotivationen einer Sporthochschule im Nachkriegsdeutschland, den eigenen Erfahrungen in Kölner Turnhallen, Hörsälen und Instituten bis hin zu den aktuellen Verbindungen zwischen Sportpädagogik und Sportverband, um Kompetenzorientierung und Digitalisierung im Trainerwesen zu fördern (vgl. hier). Mittlerweile sind das bei mir über „30 Jahre Sport“, ein Grund zu feiern, mal sehen, ob ich 2023 Weggefährten zusammentrommeln kann – an der SpoHo natürlich, dem einzigen Ort …
Auf Vortragstour rund um Social Video
Vortragsanfragen haben den Vorzug, dass man sich intensiver als sonst mit einem Thema beschäftigt, lose Gedanken verdichtet und so aufbereitet, dass Dritte etwas damit anfangen können. Sicher ist jedenfalls: Man weiß hinterher mehr als vorher.
Anfang des Monats war ich auf der Jahrestagung der Sportpädagogen in Münster. Das Thema „Wissenstransfer“ hatte mich angesprochen oder besser provoziert: Hochschulen generell und die Sportpädagogik im Besonderen sind aufgerufen, ihr akademisch produziertes Wissen der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen bzw. dieses Wissen sinn- und nutzstiftend in der Gesellschaft zu verankern. Mein Vorschlag, die Wissensproduktion nicht als einen der Forschung nachgelagerten Akt zu betrachten, sondern als einen forschungsimmanenten (Design-)Prozess (Stichwort Design-Based Research), wurde überraschend wohlwollend aufgenommen. Ja, so müsste Sportpädagogik eigentlich forschen, wenn sie innovative Bildungsszenarien entwickeln will. Als dann einer der Keynote-Sprecher darüber aufklärte, dass man „diese Art von Forschung (bei ihm hieß sie „Symbiotische Transferstrategien“) nicht dem eigenen Nachwuchs empfehlen könne“, weil damit trotz Innovation die wissenschaftliche Reputation gefährdet sei, wurde mir klar: Das als richtig erkannte braucht einen belastbaren Erkenntnisrahmen und mutige Männer/Frauen, die diese Forschungspraxis dann auch durchsetzen! Insgeheim dachte ich mir: Was für eine Führungselite ziehen wir uns da heran, denen wir schon bei der Geburt sagen: Gehe den opportunen Weg! Ich verließ Münster also mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
In der dritten Juniwoche war ich auf dem Digital Change Summit an der Hochschule Mittweida. Herrn Prof. Dr. André Schneider ging es bei der Tagung darum, unterschiedliche Perspektiven auf Transformation zusammenzurufen und in den Austausch zu kommen. Ich steuerte einen Beitrag zu Social Video bei, indem ich erstmals von einem „kollaborativen Erfahrungs- und Beobachtungsraum“ sprach und damit u.a. Elemente des Forschenden Sehens aus unserem SCoRe-Projekt in die Diskussion einbrachte. Was ich wiederholt feststelle: Der anschauliche Einstieg über die Fußballtrainerausbildung mit Social Video im Blended Learning-Format gelingt immer, die Zuhörerinnen können sich ein Bild machen und folgen dann auch artig, wenn es steiler wird und ich von „Epistemischen Forderungen“ beim Forschenden Sehen spreche. Im Nachgang ergaben sich jedenfalls interessante Gespräche zum einen mit Prof. Dr. Thoralf Gebel aus dem Innovationsmanagement und zum anderen mit Prof. Dr. Werner Sauter, dem Social Video gut gefiel.
Ich sagte weiter oben, dass man nachher mehr wisse als vorher. Was weiß ich nun mehr? Zum Ersten bin ich immer wieder irritiert (das ist zurückhaltend), wie wenig kreativ wir mit der neuen Präsenz umgehen, d.h., irgendwie ist alles wie früher und wir tun so, als hätte es die Corona-Tagungserfahrung nicht gegeben. Wie wäre es, wenn wir mehr Barcamps machen, mindestens, oder gar wissenschaftliche Spaziergänge, nennen wir sie WorkWalks, bei denen wir „Meilensteine“ abarbeiten, jeden Kilometer ein Halt mit einer Station als Input und anschließender kollaborativer Reflexion beim Gehen. Es ist so viel Neues denkbar, wünschbar, machbar. Aber doch nicht wieder einfach nur in die Seminarräume zurück, ohne eine Idee davon, warum ich 600 km fahren soll. Zum Zweiten habe ich Hoffnung, dass DBR in der Sportpädagogik eine Chance hat. Hier tut sich was und wenn als politisches Sprungbrett der Wissenstransfer herhalten muss, dann ist es auch gut. Zum Dritten hat mir die Diskussion zum Erfahrungs- und Beobachtungsraum gezeigt, dass Social Video genau in diesen Begriffsdimensionen seine Potenziale ausspielt, um ein besseres Verstehen des Sachverhalts und eine bessere Verständigung untereinander zu erzielen. Jetzt müssen wir das nur noch alles handsamer formulieren und gute Beispiele entwickeln, gerne aus dem Umfeld der beruflichen Bildung!
Und ja, was ich noch „erfahren und beobachtet“ habe – ganz ohne Social Video – ist: Der Osten ist schön!